20140311

[mnemosyne] die pranke der natur (und wir menschen)

Das Beben, das Japans Nordinsel um vier Meter nach Osten versetzte, war mit seinem Glockenschlag noch in den Schweizer Bergen zu messen. Der ganze Erdball empfing diesen Puls, dies sind, nach Johannes Kepler, die Akkorde des Planeten Erde. Einige der Töne haben eine Folge von tausend Jahren.
Ohne, daß wir uns gegenseitig Geschichten erzählen, haben wir keine Wirklichkeit. Das heißt, wir kriegen eine gewisse Wärme, eine Temperatur in die Ereignisse hinein, die wir brauchen, sozusagen die 37 Grad Celsius der wirklichen Verhältnisse. Und diese Geselligkeit bedeutet, daß zwischen uns Menschen eine Erzählung entsteht, etwas Wirkliches entsteht. Also der Sitz der Seele ist zwischen zwei Menschen und nicht in einem Menschen. Und dieses ist auch jetzt das Verhältnis zur Natur, man muß nach der Katastrophe erzählen. Als der Bombenangriff auf Halberstadt vorüber war, hab' ich noch 'ne Stunde später gedacht, "Und morgen ist Montag und ich kann's in der Klasse erzähl'n." Und ich war sehr enttäuscht, daß die Schule ausfiel. Das heißt, dieses Erzählen, daß man die Wirklichkeit, die Haut, in der wir leben, wiederherstellt, die ist sozusagen ein Bedürfnis, das stärker sein kann als alles objektive Geschehen. Ich glaube, daß alle Erlebnisse, die Menschen haben, untereinander ein Netz bilden, ein stärker vernetztes als das Online-Netz.[1] Und daß man gewissermaßen, wenn man falsch erinnert, also was verdrängt, oder übertrieben erinnert, oder etwas nicht erzählt, sondern immer nur bezeichnet, "Das war der achte April 1945.", und annimmt, es weiß jeder, was das ist. Wenn man das macht, dann kommt dieses ganze Netz, dieses Kleid, in dem wir leben, durcheinander. Wir zerstören dann ein Haus, in dem wir leben: das Haus der Erinnerung.[2]


1 The thought he utters triggered a memory, concerning what Lain says at the end of Layer 02, how "no matter where you go, everyone's connected," epitomizing the hypothesis that humans are subconsciously linked by the Earth's magnetic field, which resonates on a Theta frequency of 7,83 Hz, as measured by Winfried Otto Schumann. The initial discovery of what would later be referred to as Schumann resonance can actually be attributed to Nikola Tesla, who theorized on its potential usage for wireless telegraphy, that is power transmission and transmission of intelligible messages to any point on the globe (see: The Transmission of Electrical Energy Without Wires As A Means of Furthering Peace).
2 Der oben stehende Paragraph stellt einen transkribierten Auszug aus einem Gespräch mit Alexander Kluge dar, zu finden auf Die Pranke der Natur [und wir Menschen] (CD 1, Track 17), einem primär Fukushima-bezogenen Füllhorn an Tondokumenten (eingesprochen von Alexandra Kluge, Edgar Reitz, Hannelore Hoger, Helge Schneider, Helmut Stange, Jochen Striebeck, et al.) und experimentellen Klangpassagen von Alva Noto, Gustav und Ikue Mori. Bei dem Epigraph am Anfang des Posts handelt es sich um die einleitenden Worte aus Kluges Text "Kosmische Musik" (CD 1, Track 4).

No comments: